Buch I
Sie traute sich schon gar nicht mehr, ein Buch aus ihrem Regal zu ziehen. Denn in den letzten Tagen, ja, inzwischen dauerte es schon über eine Woche an, war es ihr nicht mehr möglich gewesen, zu lesen. Sie zog eines ihrer vielen Bücher aus dem Regal, Bücher, die sie seit Jahren begleiteten und ihr in jeder noch so schwierigen Lage ein Ratgeber gewesen waren, besser als mancher Freund. Aber wenn sie das Buch öffnete, dann sah sie: Nichts. Die Seiten waren leer. Weiß. Nicht ein einziger Buchstabe war zu sehen, noch nicht einmal die Seitenzahl.
Sie hatte ihre Freundin gebeten, sich eines der Bücher zu nehmen und daraus vorzulesen. Ihre Freundin hatte gelacht, aber sie war ihrer Bitte nachgekommen. "Die Grasharfe" von Truman Capote – und sie hatte ihre Lieblingsstelle vorgelesen. Danach hatte sie ihr das Buch in die Hand gedrückt und gelacht. "Zufrieden?", hatte sie gefragt und war in die Küche gegangen, um das Abendessen vorzubereiten.
Nein, sie war nicht zufrieden. Sie hielt dieses Buch, eines ihrer Lieblingsbücher, in der Hand und es war so leicht… so als hätte es durch die verlorenen Buchstaben an Gewicht verloren. Sie vermisste die Wörter, die zu Sätzen, Absätzen und Kapitel wurden und sie so oft getröstet oder abgelenkt, zum Weinen oder zum Lachen gebracht hatten. Vorsichtig stellte sie das Buch zurück in das Regal, strich nur noch einmal sanft über den Buchrücken. Vielleicht morgen, ja, vielleicht waren morgen die Wörter wieder da.