Zahnstocher
Nach jedem Essen hatte er einen Zahnstocher benutzt. Die hatte in einer kleinen Box auf dem Fensterstock gestanden, direkt an der Eckbank. Manchmal hatte er die Zahnstocher noch stundenlang im Mundwinkel getragen, so wie manche eine Zigarette. Sie wusste, dass er vor ihrer Geburt geraucht hatte. Kette sogar – eine Zigarette war kaum ausgeraucht, schon hatte er die nächste im Mund gehabt. Aber dann war sie geboren worden und er hatte aufgehört, von heute auf morgen.
Sie sahen sich nicht mehr allzu häufig, was daran lag, dass sie in Hamburg wohnte und er in München. Mehr als einmal hatte er gescherzt, was er wohl verbrochen hatte, dass sie ausgerechnet ans andere Ende der Republik ziehen musste. Er hatte natürlich nichts verbrochen, nur das Jobangebot war so verlockend gewesen, dass sie nichts in München gehalten hatte – noch nicht einmal er. Einmal im Jahr kam er sie besuchen für ein paar Tage. Dann nahm sie sich frei und sie streiften gemeinsam durch die Stadt und die Museen und aßen Fischsemmeln an den Landungsbrücken. Das gehörte dazu wie der Zahnstocher, den er danach im Mundwinkel trug. Sie vermisste ihn sobald er wieder in den Zug nach München gestiegen war und sie verließ den Bahnsteig erst, wenn der Zug nicht mehr zu sehen war.
Am schlimmsten war es jedoch, wenn sie in ihrer Wohnung die Zahnstocherbox fand. Jedes Mal versteckte er diese an einer anderen Stelle. Sie hatte sie schon bei den Eierbechern gefunden, im Badezimmerschrank neben dem Mundwasser oder in der Vorratskammer beim Mehl. Dann musste sie weinen, sie konnte sich gar nicht anders helfen. Am Bahnsteig war sie immer tapfer, aber in ihrer Wohnung, die dann noch nach seinem Aftershave roch und der Box mit den Zahnstochern in ihrer Hand, gab es kein Halten mehr. Sie stellte die Box zu den anderen, wenn sie genug geweint hatte – dann konnte sie wieder lächeln und sie freute sich schon darauf, in 12 Monaten die nächste Box mit Zahnstochern dazu zu stellen.